Die Chefin hat keine Ahnung – ihr wisst das wahrscheinlich schon, schließlich hat ihr ja inzwischen schon einiges über unsere Hobby-Bäuerin erfahren. Jedenfalls hat sie sich mal wieder völlig grundlos aufgeregt. Wir Zicken waren einfach mal bummeln – macht sie doch hin und wieder auch, mit Freundinnen durch Läden ziehen, kommentieren und manchmal sogar kaufen. Unser Bummel sieht so aus: Schwachstelle im Zaun checken, Anlauf taxieren, drüber springen und entdecken, was so im Schaufenster nebenan alles zu sehen ist – na ja, zugegeben, mit dem Sehen begnügen wir uns nicht. Hier ein Hälmchen, dort ein Blümchen, hier sattes Laub, gern auch mal die Rinde stattlicher Bäume, dort reife Beeren – und als Dank hinterlassen wir frischen Dung.

Zäune sind für Ziegen keine Grenzen, sondern eine Herausforderung. Ihr werden wir Zicken und Böcke hier täglich neu gerecht – und das bringt die Bäuerin durchaus mal an ihre eigene Grenze. Rein emotional, und manchmal auch organisatorisch.

ziegezaun

Aber ist der Zaun nicht auch eine wunderbare Metapher für ganz andere Grenzen und Übergänge, die zu unserem Leben gehören? Ich gebe zu, ich fordere euch jetzt schon sehr. Mache einen kraftvollen Schlenker weg vom fröhlichen Landausflug zum tiefgründigen Nachdenken. Hin zum sicherlich heikelsten Aspekt der Tierhaltung, dem Schlachten. Wir sprechen von der Grenze zwischen Leben und Tod. Doch, das ist bei uns in der Herde durchaus ein Thema – und wie ich höre bei manchen Menschen auch.

Unser Herdenleben kann nicht funktionieren, wenn hier plötzlich die gesamte männliche Nachzucht – in guten Jahren vielleicht locker mal 15 Böckchen – ihr Leben verbringen will. Da wäre Chaos pur. Und für die Zucht auf anderen Höfen kommen auch nicht alle in Frage. Also hat sich die Chefin den Kopf zerbrochen wie sie als jahrzehntelange Vegetarierin damit umgehen kann. Ihr Verband hilft da nur bedingt weiter. Von Aufzucht über Haltungsbedingungen oder Fütterung bis hin zur Verarbeitung und letztlich zum fertigen Produkt gibt es Leitlinien für die Öko-Akteure. Und geregelt ist auch, wie lange ein Tier zum Schlachthaus gefahren werden darf. Aber der wirkliche Kern beim Thema Schlachten kommt in Verordnungen und Richtlinien nicht vor. Aber immerhin immer öfter in Gesprächen mit anderen Demeter-Bäuerinnen und –Bauern, und natürlich auch mit VerbraucherInnen. Manchmal geht es da richtig heiß her.

Die Chefin hat sich schwer getan – uns hat sie ja nicht gefragt. Ganz von allein hat sie dann einen Weg gefunden und jetzt sind wir fast ein wenig stolz auf sie. Sie macht es nämlich nun so, dass wir das völlig normal finden – wie im richtigen Ziegenleben. Der Metzger kommt auf den Hof. Unsere Jungböcke haben sechs wundervolle Monate ihr Leben genossen. Sie bekommen ein innerlich ausgesprochenes großes Danke Schön für all die Freude, die sie gemacht haben, für die Milch ihrer Mütter, die sie abgegeben haben und aus der Hand der Chefin eine letzte leckere Mahlzeit, und dabei lassen sie sich vom Bolzenschuss nicht irritieren. Das ist jetzt hart für euch zu lesen, richtig? Ich sag es wie es ist – früher kam der Wolf, heute der Metzger. Wir lassen uns davon nicht stören. Wir wissen, dass das Ende des physischen Körpers nicht das Ende alles Lebendigen ist. Wir als Herde bestehen weiter und vielleicht spüren wir sogar manchmal so etwas wie den großen Ziegengeist als Begleiter? Die Chefin hat uns zu sich genommen, sich mit uns vertraut gemacht, uns Futter und einen tollen Stall gegeben und wir tauschen dafür unsere Milch und unser Fleisch ein. Könnt ihr euch in diese Gedankengänge begeben oder wehrt sich etwas in euch kategorisch dagegen? Wir haben hier schon beides erlebt, nachdenklich gewordene Besucher und empörte genauso.

Was für uns wichtiger ist als so ein Streitgespräch über die Wand des Melkstandes hinweg: Wir spüren, wie die Chefin mitfühlt, mitgeht, über den Zaun, über die Grenze. Wir sind ihr dankbar, dass sie uns und unseren Böckchen ein hektisches Abtransportieren und den Schlachthof erspart. Wir sehen ihr ruhiges Ritual als Vorbereitung zum Sterben und finden das passend. Was sagt ihr dazu?