Wir waren neulich auf dem Bauernhof. Mit der ganzen Familie. Und gleich für drei Tage. Nun hatte ich bei der Vorstellung von Urlaub auf dem Bauernhof jenes urige und halb heruntergekommene Nebenerwerbsgehöft in der tiefsten fränkischen Pampa im Kopf, auf das mich meine Eltern zu Kinderzeiten des Öfteren im Oster- oder Herbsturlaub geschleppt mitgenommen haben. Dort durfte ich morgens mit der Alu-Kanne in der Hand zum Nachbarhof schlappen und Milch holen, nachdem ich zuvor im übel stinkenden Hühnerverschlag die Frühstückseier gesammelt hatte. Tagsüber fuhr ich auf dem Trecker mit auf die Felder oder staute den nahegelegenen Bach mit herumliegenden Steinen und Ästen auf, bis mir das Wasser in die Gummistiefel schwappte.

Spieltrecker auf dem Bauernhof
Doch heute sieht das mit dem Bauernhof anders aus. Zumindest auf dem Hof, bei dem wir für unseren Kurzurlaub eingecheckt haben. Auf dem Parkplatz vor der Rezeption – jawohl, Sie lesen richtig, der Bauernhof hatte eine Rezeption – parkten wir mit unserer mäßig beladenen Familienkutsche zwischen dicken, geländegängigen Fahrzeugen edler Hersteller ein, deren Herkunftskennzeichen und geradezu nanopartikelfreier Lackzustand darauf hindeuteten, dass sie kaum für den geländegängigen Einsatz in landwirtschaftlicher Umgebung erworben wurden.  Nach dem Checkin wurde uns ein Lageplan (!) in die Hand gedrückt, wie wir zu unserer gebuchten Ferienwohnung finden würden. Der Plan ließ mich dann auch erstmals die Dimension erahnen, die dieses Feriendorf mit angeschlossenem Landwirtschaftsbetrieb offensichtlich hatte. Ich parkte unsere Familienkutsche unweit der Wohnung auf einem dafür vorgesehenen Stellplatz und begann, es zu entladen. Der Rest der Familie erkundete derweil das weitläufige Gelände, dessen zahlreiche Gebäude nur in wenigen Fällen landwirtschaftliche Verwendungszwecke erahnen ließen.

Ich schleppte unseren kleinen Lebensmittelvorrat und die Reisetasche (und ja, es war nur eine) gerade den mit saftigem Gras begrünten Abhang zur Ferienwohnung hinunter, als es hinter mir laut aufröhrte. Der Ferienwohnungsnachbar wollte wohl endlich mal die Geländegängigkeit seines SUV’s unter Beweis stellen und fuhr mit sattem Dieselwummern mitten über die Wiese bis direkt vor den Hauseingang. Das geländegängige Vehikel Zuffenhausener Machart war bis unter das Dach mit Koffern, Tüten, Klapp- und Getränkekisten vollbeladen. Obwohl im Auto selbst neben dem Fahrer lediglich seine ihm offensichtlich Zugetane und ein in edelstem Markenzwirn gekleidetes kleines Mädchen saßen. Vor meinem inneren Auge erschien zum ersten Mal in diesen Tagen das Hashtag #allebekloppt. Und es sollte nicht das letzte Mal sein.

Nach dem meinerseitigen kurzen Entladevorgang machte ich mich auf die Suche nach der Familie. Ich fand sie in der zur „Strohburg“ umfunktionierten Scheune, wo der Junior mit anderen Kindern munter durch und über die aufgestapelten Ballen tobte und schon nach kurzer Zeit aussah, als sei er mit dem gelben Streu eine immer währende Symbiose eingegangen. Ich hielt ihm seine Gummistiefel hin, da ich zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch der Meinung war, dass diese ein für ländliche Zwecke angemessenes Fußbekleidungswerk darstellen.

Als wir zum Haus zurückkamen durchzog den ehemals grünen Rasen eine Doppelspur der Verwüstung. Ich kann nicht rekonstruieren, ob das SUV den Weg vom Rasen allein oder an der Abschleppkette einer größeren Landmaschine geschafft hat. Fest steht, in dieser Spur wächst so schnell kein Gras mehr.

Während der Junior draußen auf dem Spielplatz tobte und mit einem der zahlreichen Kettcars Runde um Runde drehte, tranken wir Erwachsenen in der Sonne sitzend einen Kaffee. Dann machten wir uns gemeinsam auf Entdeckungsreise. Der Junior war ganz verzückt ob des an uns vorbeirauschenden Güllegespanns, das in regelmäßigen Abständen am benachbarten Kuhstall auftankte. Trecker haben ja was Faszinierendes. Nicht nur für Kinder. Leider durften nur letztere eine Güllerunde mitfahren. Vätern war dieses Vergnügen aufgrund ihrer Leibesfülle und des fehlenden Kabinenplatzes nicht vergönnt.

Bei unserem Rundgang stellten wir beruhigt fest, dass wir tatsächlich auf einem Bauernhof gelandet waren. Es gab Kuhställe, Kleintierställe, eine Pferdescheune und eine große Hühnerwiese mit einem hochmodernen fahrbaren Hühnerstall. Des Juniors Augen glänzten zusehendes mehr und er saugte alles in sich auf. Sämtliche Tiere wurden gestreichelt und gefüttert. So lange, bis sie die Nahrungsaufnahme ob des Überangebotes verweigerten und sich in ruhigere Gefilde verkrochen. Schwer beeindruckt zeigte sich der Junior von den Pferden. Erst Recht, als sich dann in den Kinderkreisen rumgesprochen hatte, dass man selbige sogar reiten durfte. Allein oder geführt in einer Gruppe.

Aufgrund der gegen Null tendierenden Erfahrung mit Pferden entschieden wir uns für die letzte Variante. Nicht ahnend, worauf wir uns da einließen. So sammelten wir uns also mit zahlreichen anderen Eltern und Kindern am Vormittag des nächsten Tages vor der Pferdescheune, wo wir die bereits von der Vorgruppe gesattelte Pferde und Ponys übernahmen. Der Junior erwischte ein kleineres Pferd, das seinem Alter von gerade mal 4 Lenzen gerecht war. Leider war es aber auch das einzige ungesattelte Wesen. Es hatte lediglich einen Riemen mit Griff, an dem der kleine Mann sich festhalten musste. Ich selbst habe es ja nicht so mit Tieren. Das liegt einerseits an meiner nahezu haustierfreien Kindheit und andererseits an meinen zahlreichen Allergien, die mich oft schon beim Anblick des Gefleuchs niesen und um Atem ringen lassen. Und ausgerechnet jemandem wie mir vertraute man nun ein Pferd an, das nicht nur größer, schwerer und stärker als ich war, sondern mich sogar charakterlich noch mit seiner offensichtlich ausgeprägten Sturheit übertrumpfte.

Jedenfalls wollte es mir partout nicht gelingen, es vom Grasfressen abzuhalten, wozu mich die Oberpferdeführerin jedoch eindringlich aufforderte. Ich war jedoch offensichtlich nicht der einzige Überforderte in der Runde. Auch andere Mütter und Väter konnten die ihnen zugeordneten Tiere nicht im Zaum halten. Die größten Probleme gab es beim Mutter-Tochter-Pferd-Gespann unmittelbar neben mir. Die Tochter machte beim Aufstieg eine wohl für das Pferd unangenehme Bewegung, was dazu führte, dass dieses ausbrach, bockte und mir mit dem glücklicherweise unbeschlagenen Huf einen schönen Pferdekuss mitten auf den rechten Oberschenkel verpasste. Letzteres musste ich jedoch heldenhaft ignorieren, um den Junior abzufangen, der in der unübersichtlichen Situation beinahe vom Rücken seines Pferdes zu fallen drohte. Selten kam ich von einem Spaziergang so gerädert zurück wie von dieser Pferderunde. Über mehrere Kilometer mit schmerzendem Oberschenkel ein Pferd zu führen und dabei den Junior so festzuhalten, dass er nicht von selbigem herunterfällt, ist kein Vergnügen. Aber die leuchtenden Augen und der überbordende Reiterstolz machten all das wieder wett.

Um mich von den Strapazen zu erholen, setzte ich mich vor der Pferdescheune auf eine Bank in die Sonne. Dabei beobachtete ich zwei extrem aufgebrezelte Mittdreißigerinnen, die vor der Fahrt zum Bauernhof offensichtlich eine äußerliche Runderneuerung inklusive aufwendigem Nagelstyling hinter sich gebracht hatten. Trotz der künstlerisch sicher wertvollen und zur Hofarbeit gänzlich ungeeigenten Nägel , schleppten beide einen Schwenkgrill an mir vorbei, der exakt so aussah, wie das Modell, das auf der Terrasse unserer Ferienwohnung stand. Ich dachte mir nichts Böses, nickte ihnen freundlich zu und döste weiter. Zurück an der Wohnung dachte ich, mich träte erneut ein Pferd. Der zuvor gesehene Grill sah nicht nur exakt so aus wie das Modell auf unserer Terrasse, es war das Modell von unserer Terrasse. Selbige war nämlich bis auf Bank und Tisch gähnend leer. Ich überlegte kurz, ob ich mich aufregen soll, erinnerte mich dann aber an meinen Vorsatz des Empörungsfastens und sah von einer Konfrontation ab. Schließlich hatten wir nicht vor zu grillen, so dass ein Zurückfordern des Grills allenfalls eine Sache des Prinzips, nicht aber der Sicherstellung der Nahrungsaufnahme gewesen wäre.

Statt einer Grillorgie mit ohnehin viel zu fettem und gesundheitlich wie klimatechnisch bedenklichem Fleisch machten wir dann gemeinsam mit den mitgereisten Freunden abends am Feuerplatz ein schönes Lagerfeuer und hingen unseren Kindheitserinnerungen nach. Um uns herum herrschte Stille. Bis auf die im Stahl muhenden und pupsenden Kühe war kaum ein Laut zu hören. Die Mitbewohner des Gehöfts hatten sich zum Fernsehgucken in ihre Domizile verkrochen, wie man unschwer durch die beleuchteten Fenster und verschlossenen Terrassentüren sehen könnte. Der mitgereiste Freund, ein passionierter Astrofotograf, erklärte uns und den Kindern den Sternenhimmel und erzählt so manche Anekdote aus bewölkten Nächten auf einsamen Beobachtungsposten. Irgendwann schlief der Junior auf meinem mittlerweile grünblau angelaufenen Oberschenkel ein und ich trug ihn ins Bett, um es ihm kurz darauf ob der anstehenden Zeitumstellung gleich zu tun.

Am nächsten Morgen – der Junior und ich blieben unserem Ruf als frühe Vögel trotz der fehlenden Stunde treu – stromerten wir recht zeitig über das Gelände. Am Kleintierstall fütterten wir die aufgeplusterten Hähne und zu dieser Stunde noch hungrigen Kaninchen. Ein kleines Mädchen gesellte sich zu uns und gemeinsam streichelten die Kinder alles, was sich von ihnen streicheln ließ. Sie übertrumpften sich gegenseitig in ihren Zuneigungsbeweisen und machten einen richtigen Wettbewerb daraus. So lange, bis die Mutter des Mädchens bis an die Zähne mit Feuchttüchern bewaffnet in der Tür erschien und entrüstet sagte: „Lisa-Marie, ich hab Dir doch gesagt, Du sollst hier nichts anfassen. Komm her, ich putz Dir erst mal die Hände ab.“ Ich sah den Junior an, der in Gummistiefeln mit Kuhmist drunter und Stroh im Haar vor mir stand und sich gerade genüsslich mit den dreckigen Fingern in der Nase bohrte.

Und dann war mir auf einmal klar, zu welcher Generation ich wirklich gehöre. Die Generation Golf war gestern. Heute sind wir die Generation Feuchttuch.