Seit einiger Zeit habe ich neue Nachbarn. 2000, um genau zu sein. Und ich habe noch keinen dieser neuen Menschen in meiner Umgebung kennengelernt.

Aber dann begegne ich Morteza aus Afghanistan.

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Ich wohne in Kreuzberg am Platz der Luftbrücke, unweit des ehemaligen Tempelhofer Flughafens. In dessen verlassenen Hangars sind Flüchtlinge untergebracht.

bloggerfuerflüchtlingeEs ist ein kalter verregneter Samstagnachmittag, an dem ich den Plan habe, mir endlich ein Bild von der Lage meiner neuen Mitmenschen zu machen. Auslöser ist die Initiative meiner Bloggerkollegen Nico LummaStevan PaulKarla Paul und Paul Huizing. Sie haben #BloggerfuerFluechtlinge ins Leben gerufen, um ein Zeichen zu setzen, Augen zu öffnen, zu helfen und dazu beizutragen, dass Flüchtlinge in der Mitte der Gesellschaft akzeptiert werden. Ich bin beeindruckt von all dem Engagement, und möchte mitmachen.

Gerade bin ich auf dem Rückweg von einem spontanen Spaziergang zum Tempelhofer Feld. Ich will mit eigenen Augen sehen, was da vor meiner Haustür passiert. Herausfinden, wer meine neuen Nachbarn sind. Irgendwie Kontakt aufnehmen.

Die spontane Euphorie und mein Mut verfliegen dann aber recht schnell: Ich laufe 20 Minuten umher und finde nichts. Keinen Eingang, kein Hinweis, keine Menschen die aussehen, als seien sie Neuankömmlinge in Berlin. Und was habe ich mir da eigentlich vorgenommen? Einfach wildfremde Leute anquatschen? Was für eine naive Idee.

Also mache ich mich grübelnd auf den Heimweg. Wie soll das eigentlich funktionieren? Wie nimmt man Kontakt zu den Menschen auf, die vor Krieg und Terror fliehen? Die dann in riesigen Notunterkünften, abgeschottet vom Rest der Gesellschaft, darauf warten, neu anzufangen? Menschen, die in ihrer Heimat nicht mehr sicher sind, alles hinter sich gelassen haben und mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland gekommen sind. Menschen mit tragischen Schicksalen, für die meine Vorstellungskraft nicht ausreicht. Menschen aus einer fremden Kultur, die ich gerne kennenlernen möchte, und die ich mir in meine eigene Kultur integriert wünsche. Wie spreche ich diese Menschen an, ohne ihre Sprache zu sprechen?

Auf einmal hält ein Auto vor mir. Auf der Rückbank sitzen zwei kleine Kinder. Der Mann am Steuer ruft mir durch´s offene Autofenster zu:

„Wo sind denn die Flüchtlinge untergebracht? Ich muss die beiden Kinder wieder zu ihren Eltern bringen.“

„Ich bin auch auf der Suche! Leider erfolglos. Keine Ahnung wo hier der Eingang ist, und ob man da überhaupt einfach so reinlaufen kann. Tut mir leid!“

„Soll ich dich mitnehmen? Dann suchen wir gemeinsam. Ich bin Morteza.“

Ich überlege kurz, steige zu den dreien ins Auto und stelle mich vor. Morteza erzählt mir, dass er aus Afghanistan kommt und mittlerweile seit über 7 Jahren in Berlin lebt. Die beiden Kinder auf der Rückbank gehören einer befreundeten Familie, die vor kurzem in der Flüchtlingsunterkunft auf dem Tempelhofer Feld leben. Er hat sie zu seinem Onkel gebracht, der Arzt ist. Jetzt muss er die beiden zurück zu den wartenden Eltern bringen.

Wir kurven ein bisschen mit dem Auto herum, bis wir schließlich einen Parkplatz finden und loslaufen. Das mächtige Gebäude des Flughafens wirkt einschüchternd auf mich, so wie es die nationalsozialistische Architektur zum Ziel hatte. Jetzt sind in diesen alten Mauern geflüchtete Menschen untergebracht. Die Ironie des Schicksals lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen.

Nach einiger Zeit finden wir die Eltern der Kinder und bringen sie zum Eingang des Hangars. Das Gebäude dürfen wir aus Sicherheitsgründen nicht betreten. Ein kurzes Hallo, dann verstehe ich nichts mehr von dem Gespräch, das Morteza mit dem Vater der Kinder führt.

Morteza und ich laufen zusammen zurück zum Auto. Er erzählt von den Orten, in denen er überall schon gelebt hat, und das Berlin sein liebster ist. Beim Auto angekommen tauschen wir Nummern und verabschieden uns.

Mortezas aufgeschlossener und positiver Charakter gibt mir ein gutes Gefühl. Dankbar für diese Begegnung gehe ich nach Hause und überlege, was ich tun kann. Geld und Kleider habe ich schon gespendet. Ich möchte mehr tun.

Es geht mir dabei auch um mein eigenes Bedürfnis, verstehen zu wollen, wie es den Menschen geht, die hier nach langer zehrender Flucht ankommen.

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Ich lade die Familie mit Morteza zum Essen bei mir ein! Essen verbindet und ist ein Eisbrecher – gerade wenn die Sprache eine Hürde ist.
Morteza antwortet prompt auf meine SMS und freut sich riesig. Die Idee ein afghanisch-deutsches Willkommens-Essen zu machen, ist schnell geboren. Doch dann fällt mir ein, dass meine Küche wohl etwas klein für so viele Gäste ist.

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Mein Freund Ralf kommt mir in den Sinn. Dessen Stiefmutter Heidi war in ihrer ersten Ehe mit einem afghanischen Mann verheiratet. Ralf hat mir schon viel von Heidis afghanischen Kochkünsten vorgeschwärmt.

Das ist es! Wie wäre es, wenn Heidi auch dazu kommt und wir gemeinsam für alle kochen? Heidi und Ralf sind sofort Feuer und Flamme. Wir überlegen uns ein Menü, Einkaufslisten werden hin- und hergeschickt, und dann ist es eine Woche später so weit.

Die 85 jährige Heidi ist extra von Hamburg nach Berlin gereist, um mir zu zeigen, wie man afghanisches Essen kocht. Ich kann mein Glück kaum fassen.

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Wir treffen uns Mittags und machen uns gleich ans Werk Mourgh Chalau (Huhn, das in einem Gebirge aus Reis begraben, gegart und serviert wird), Banja siah Borani (gesalzene Aubergine mit Quarkcreme), Sabzi (Kalbsgoulasch mit Spinat), Hirschrücken mit Serviettenknödeln und Waffeln vorzubereiten.
Heidi kocht mit Leib und Seele. Und natürlich nach Gefühl und langjährigem Wissen, dass sie sich selbst durch´s „Topfgucken“ in Afghanistan aneignete. Genaue Mengen- oder Zeitangaben muss ich pingelig erfragen.

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Eine besondere Kunst ist z.B. die Zubereitung des langkörnigen Reis, der mehrere Stunden in Wasser quillt, bevor er nach kurzem Aufkochen im Backofen mit Küchenkrepp abgedeckt, gegart wird. Mit Öl wird auch nicht gespart, und Zwiebeln und Knoblauch dürfen auf keinen Fall fehlen!

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Wir kochen was, das Zeug hält, als ob wir eine Fußballmannschaft erwarten würden. Wir ringen mit Töpfen und Brätern, balancieren Anrichteplatten und Teller durch die kleine Küche und stapeln die fertigen Speisen kunstvoll an jedem freien Ort. Ralf sorgt dafür, dass das große Küchenchaos ausbleibt und wir am Ende pünktlich fertig werden, als es auch schon an der Tür klingelt.

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Zum Glück war ich während des Kochens so abgelenkt, dass mir Gedanken wie „Was ist, wenn wir die ganze Zeit stumm da sitzen und niemand ein Wort sagt?“ oder „Hoffentlich schmeckt´s auch allen!“ gar nicht in den Sinn kommen. Und dann geht der Trubel auch schon weiter.

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Lachende Gesichter, ein großer Blumenstrauß und freudige Begrüßungen kommen mir entgegen. Salaam! Heidi ist die perfekte Gastgeberin und empfängt unseren Besuch in ihrer Landessprache. Sie spricht fließend Afghanisch und übersetzt zusammen mit Morteza unsere Fragen und Antworten.

Die Familie ist vor einem Monat in Berlin angekommen und hat für die Flucht von Herat nach Berlin genauso lange gebraucht.

Noch immer kann ich mir die Geschichte, die sie erzählen, schwer vorstellen. Und es ist ein Schicksal von so vielen Menschen, die auf der Flucht sind: Eine Mutter und ein Vater, genau in meinem Alter, verlassen ihr Heimatland mit ihren drei kleinen Kindern, weil die Lebenssituation dort ausweglos und gefährlich geworden ist. Weil das Leben dort nicht mehr lebenswert ist, haben sie eine lebensgefährliche Flucht in Kauf genommen. Nun warten sie zusammen mit neun anderen Personen in einem kleinen Zimmer im ehemaligen Tempelhofer Flughafen darauf, dass ihr Asylantrag bearbeitet wird. Sie sind dankbar hier sein zu dürfen – trotzdem haben sie sich das alles etwas anders in Deutschland vorgestellt. Morteza versucht nun, eine Wohnung für die Familie zu finden. Die Kinder können am Deutschunterricht teilnehmen. Auch die Eltern wünschen sich, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen. Leider wird dies momentan nur für syrische Flüchtlinge angeboten.

Ich kann das alles nicht fassen. Ich bin sprachlos, und alles was ich sagen könnte, um mein Mitgefühl auszudrücken, fühlt sich belanglos an. Mir fehlen die richtigen Worte.

Das Schweigen fühlt sich für mich in diesem Moment am ehrlichsten an. Aber es hält nicht lange an. Nach und nach werden wir lockerer und die Stimmung ausgelassener. Die Kinder toben durch die Wohnung, das duftende Essen wird auf Teller verteilt und mit hungrigen Blicken bestaunt.

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Alles schmeckt ganz besonders gut an diesem Abend. Der Reis ist perfekt gegart, das Huhn schön saftig, der Hirschrücken wunderbar zart und noch leicht blutig. Die Auberginen zergehen auf der Zunge und der Kalbs-Spinat ist im Nu aufgegessen. Die Waffeln duften durch die ganze Wohnung und am Ende wird ein kleiner Teller mit Kappa gereicht, ein wohltuendes gemörsertes Pulver aus Anis, Kardamom und Zucker.

Ich bin so dankbar für diesen einzigartigen Abend. Für diese berührende Begegnung von Generationen, Kulturen, Freunden und Fremden, die am Ende keine Welten trennen, sondern das Menschsein verbindet. Ich wünsche mir, dass diesem Abend weitere folgen werden. Und das meine Geschichte meine Mitmenschen ermutigt, über den eigenen Tellerrand zu schauen, um sich selbst zu beschenken.

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Banja siah Borani
Das Rezept hat mir Heidi liebenswerter Weise zur Verfügung gestellt. Heidi sagt, es ist wie die Perle einer Perlenkette, die man eigentlich nie verschenkt (afghanisches Sprichwort) 🙂

Zutaten als Vorspeise für 4–6 Personen
3 große Auberginen, geputzt
4 EL Meersalz
Öl zum Braten
4 große Zwiebeln, feingehackt
4 Knoblauchzehen, gehackt
2 geschälte Tomaten samt 100 ml der Tomaten-Flüssigkeit
1 rote Paprika, geputzt und entkernt
1 Peperoni, geputzt, geviertelt und entkernt
1 Prise Chiliflocken
Morche Masala Degh (afghanische Gewürzmischung aus gemahlenem großen Kardamom, grünen Kardamom, Zimtstange, Kreuzkümmel, wenig Nelken und Koriander)
500 g Quark (20%)
3 EL Milch
2 Knoblauchzehen, zerdrückt
1 Prise Salz
1 kleiner Teebeutel getrocknete Minze
3–4 Blätter Minze als Dekoration, gewaschen
1 Fladenbrot

Zubereitung

  1. Am Vortag Auberginen vom Strunk befreien, und das Auberginenfleisch in 3–4 cm dicke Scheiben schneiden. Auf Küchenkrepp legen, mit einer Gabel einstechen, mit Salz bestreuen und im Kühlschrank über Nacht ziehen lassen. Das austretende Wasser mit Küchenkrepp aufsaugen. Am nächsten Tag den Salzgehalt prüfen (meist ist das Salz durch das Abtupfen bereits auf das richtige Maß reduziert), wenn nötig überschüssiges Salz kurz abwaschen.
  2. 100 ml Öl in einer großen Pfanne erhitzen und die Auberginen darin goldbraun braten. Auf Küchenkrepp abtropfen.
  3. Einen guten Schuss Öl in der gleichen Pfanne erhitzen, und die Zwiebeln darin goldbraun braten. Danach den Knoblauch hinzufügen und mitbraten. Mit 100 ml der Tomaten-Flüssigkeit ablöschen und Tomaten hinzugeben. Paprika und Peperoni dazugeben und mitbraten. Mit einer Prise Chiliflocken und der afghanischen Gewürzmischung (Morche Masala Degh) würzen. Danach die Auberginenscheiben dazugeben, Temperatur auf niedrigste Stufe reduzieren und die Pfanne mit einem Deckel abdecken. Für etwa 1 Stunde sanft ziehen lassen, bis sich ein Fettspiegel gebildet hat.
  4. Währenddessen Quark mit Milch, Knoblauch, Salz und der getrockneten Minze in einer Schüssel mischen. Zum Anrichten ⅔ der Quarkcreme auf einer großen Platte verteilen, und die Auberginen mit der Tomatensauce darauf geben. Die restliche Quarkcreme in schönen Klecksen darauf verteilen, mit den Minzblättern garnieren und zusammen mit frischem Fladenbrot servieren.