Rodelika und Milan gehören zu den ersten ökologisch gezüchteten Möhrensorten

Welche Kraft steckt im winzigsten Kern? Wahre Wunderwerke sind sie, die Samen von Pflanzen, die unsere Ernährung sichern. In ihren Genen stecken Erfahrungen von Jahrhunderten, wirken Anpassungsprozesse innerhalb der Evolution und züchterische Auslese als Kulturleistung des Menschen. Längst jedoch nicht nur diese Kräfte im Einklang mit der Natur, sondern auch und immer mehr die Eingriffe im Labor von Saatgut-Konzernen. Dabei werden natürliche Grenzen überschritten, Genmanipulationen vorgenommen und Saatgut zum Spielball wirtschaftlicher Interessen degradiert. Was früher auf dem Bauernhof und in den Gärten selbst produziert wurde – Teil des Kreislaufs war – liegt heute zum größten Teil in der Hand von Saatgut-, Tierzucht-, Futter-/Düngemittel und Pestizidindustrie. Immer weniger Konzerne liefern die Basis unserer Lebensmittel, sichern sich Patente und beeinflussen Preise, Geschäftsbedingungen und sogar politische Rahmenbedingungen. Wie gut, dass bereits vor über 30 Jahren eine kleine Gruppe von Bio-Bauern und -Gärtnern begonnen hat, dem drohenden Verlust von Vielfalt auf dem Acker und auf dem Teller entgegenzutreten. So können wir heute ernten, was damals in der ökologischen Pflanzenzüchtung begann: vitale Lebensmittel aus samenfesten Sorten, die alles in sich tragen, um weiter vermehrt zu werden. Ihre Fruchtbarkeit wurde nicht weggezüchtet, wie es bei den sogenannten Hybrid-Sorten der Fall ist, die inzwischen den Markt beherrschen und die Angebote in den Obst- und Gemüseregalen bestimmen. Für diese Hybriden stehen Gleichförmigkeit, Anpassung an chemische Spritzmittel und synthetische Dünger und hoher Ertrag als Ziele im Vordergrund. Dagegen sollen die samenfesten Sorten aus ökologischer Züchtung und die „geretteten“ Sorten unserer Ahnen der Ernährung des Menschen dienen, die biologische Vielfalt fördern und optimal zum Anbau ohne Chemie passen.

Was steckt eigentlich hinter der Entscheidung für solch freie Züchtung und gegen die aus dem Labor der Multis? Geht es nicht viel tiefer um die Frage, wie wir Pflanzen sehen? Als Rohstofflieferanten für Energie, Pflegemittel, Genussmittel? Als Sauerstofflieferanten? Heilmittel? Schlichten Werkstoff? Als Augenweide? Pflanzen sind geheimnisvoll-andersartige Lebewesen, die wir immer besser kennen und verstehen lernen wollen. Individuen, die nicht instrumentalisiert werden dürfen. Deren Würde unantastbar bleiben muss, deren Integrität wir respektieren sollten. Und kein Zweifel: Pflanzen sind die Basis der menschlichen Ernährung. Entweder direkt durch das tägliche Brot, die Vollkornnudel, den Salatkopf und den Apfel – oder indirekt durch die Produkte von Tieren, die sich von Pflanzen ernähren. Und unsere Haltung zu Pflanzen entscheidet mit darüber, welche Kraft uns das kleinste Korn zur Verfügung stellt.

Auch das Auge erfreut sich, wenn Pflanzen Blüten und Samen bilden dürfen wie hier der Lauch

Entscheidend ist also, welches Saatgut in fruchtbare Erde kommt. Im Samen konzentrieren sich Kräfte und gute Eigenschaften der Pflanze. Deshalb ist die ökologische Züchtung von eigenen Sorten bei Gemüse und Getreide so wichtig. Im Einklang mit der Natur entstehen fruchtbare Pflanzen, die optimal an die Anforderungen des ökologischen Landbaus angepasst sind. Und höchste Ernährungsqualität garantieren. Selbst auf den Geschmack hin selektieren die Züchter – und Kunden schmecken den Unterschied und loben die hohe Bekömmlichkeit. Längst ist erforscht: Sorte und Züchtungsart entscheiden ganz wesentlich über den Geschmack etwa von Möhren. Das zeigt eine Untersuchung an 20 repräsentativen Möhrensorten, die der biodynamische Forscher Dr. Uwe Geier mit dem Sensoriklabor des Technologie-Transfer-Zentrums (ttz) in Bremerhaven vorgenommen hat. Dabei schnitten die biodynamisch gezüchteten Sorten am besten ab. Sie waren weniger bitter und muffig, sondern angenehm süß und aromatisch. Sorten, die nicht mehr vermehrungsfähig sind – also Hybridsorten – erfüllen zwar die Forderung des Handels nach einheitlichem, äußerlich makellosem Gemüse, führen aber zu unharmonischen Kräfteverhältnissen und mangelhafter innerer Qualität. Welche Folgen das für den Menschen hat, ist noch gar nicht ausreichend erforscht. Dass die Nahrung dadurch immer weniger Vitalität aufweist, wurde jedoch bereits erkannt. Pflanzen, die aus Hybridsaatgut entstehen, enthalten oft weniger Trockensubstanz, also mehr wässrige Anteile, und häufig auch ein geringeres Aroma.

Nicht nur überzeugte Ökos wissen: Agro-Gentechnik bietet keine Lösungen. Im Gegenteil: sie schafft Probleme. Nur eigenständige Konzepte sichern Unabhängigkeit und Qualität, deshalb muss die ökologische Züchtung von Gemüse, Obst und Getreide vorangetrieben werden. Die einseitige Förderung gentechnologischer Verfahren in der Pflanzenzüchtung muss beendet werden, fordern inzwischen die Bio-Verbände und die Bio-Branche unisono. Auch die einjährige Vermehrung von konventionellem Saatgut unter Bio-Bedingungen, wie sie zur gesetzlichen Anerkennung als „Bio-Saatgut“ vorgeschrieben ist, genügt vielen überzeugten Bio-Akteuren nicht.

So positionieren sich die großen Bio-Verbände zur Frage nach der Kraft im Kern

Gerald Wehde für Bioland: Um im Anbau erfolgreich zu sein, ist züchterischer Fortschritt essentiell. Die Öko-Züchtung ist dabei langwierig und kostenintensiv. Dennoch ist sie wichtiger denn je, um passende Sorten für den Ökolandbau zu entwickeln und weiter gentechnik-frei zu bleiben.  Denn es besteht die Gefahr, dass sich die konventionelle Züchtung zunehmend gentechnischen Verfahren öffnet. Öko-Züchtung ist darüber hinaus wichtig, um die genetische Vielfalt zu erhalten und den Monopolstrukturen auf dem Markt zu begegnen.  Wir sprechen dazu auch mit Züchtern von Gemüsesaatgut aus dem konventionellen Bereich. Unser gemeinsames Ziel ist es, die Zukunft der ökologischen Pflanzenzüchtung gemeinsam zu gestalten. Die Zusammenarbeit erstreckt sich von der Mitwirkung bei Versuchsanbau und Sortenbeurteilung bis hin zum strategischen Austausch. Zu den größten Herausforderungen in der Öko-Züchtung zählt der Mangel an Forschungsgeldern. Ohne Forschung stagniert das Feld der Öko-Züchtung. Zwar gibt es Saatgutinitiativen, auch der BÖLW hat ein Projekt zur Züchtungsfinanzierung ins Leben gerufen und die GLS-Bank hat einen Saatgutfonds eingerichtet. Doch die Gelder reichen nicht aus, um hier entscheidende Schritte nach vorn zu machen. Dennoch gibt es inzwischen durchaus marktfähige Kulturen, die in der Praxis gut angenommen werden, dazu gehören vor allem Getreidesorten. In dem Bereich ist das Engagement der Öko-Züchter sehr groß.  

 Antje Kölling für Demeter: Bio von Anfang an – das Ziel einer unabhängigen ökologischen oder biodynamischen Pflanzenzüchtung ist es, Sorten bereitzustellen, die zu den besonderen Bedingungen des Ökolandbaus passen. Zudem sollen daraus Pflanzen wachsen, die aromatisch schmecken, die sich gut verarbeiten lassen, die Körper, Geist und Seele nähren. Der Zusammenschluss der biodynamischen Gemüsezüchter*innen Kultursaat hat bereits über 80 Sorten als Neuzüchtungen beim Bundessortenamt angemeldet, darunter bekannte Sorten wie die Möhre Rodelika. Im Getreidebereich sind bereits 60 Sorten angemeldet. Neuerdings kommt der Züchtung von Populationen zunehmend Bedeutung zu. Anders als bei herkömmlichen Liniensorten erhoffen wir uns, dass beispielsweise genetisch vielseitigere Getreide-Populationen flexibler auf unterschiedliche Wetterverhältnisse reagieren. Eine wichtige Eigenschaft hinsichtlich der bereits spürbaren Auswirkungen des Klimawandels. Trotz einiger Erfolge ist die Biozüchtung noch eine Initiative vieler einzelner – für Kundinnen und Kunden sind Biosorten bisher selten im Handel zu finden und die Züchtungsprojekte sind knapp finanziert. Daher werden viele Gespräche mit dem Handel, mit Verarbeitungsfirmen und Stiftungen geführt, um gemeinsam daran zu arbeiten, dass die Biozüchtung auf eine solidere finanzielle Basis gestellt wird und Biosorten auch mehr im Laden zu kaufen sind. Weltweit ist der Großteil der Pflanzenzüchtung in der Hand weniger multinationaler Konzerne, die zunehmend auf zweifelhafte Züchtungstechniken und gar auf Patente setzen. Langeweile statt Geschmacksvielfalt bei Obst und Gemüse droht sich breit zu machen. Die Biozüchtung hingegen ist ein Aufbruch hin zu einer vielfältigen, regional verwurzelten aber international vernetzten Entwicklung neuer Sorten, in der Züchter*innen, Bäuerinnen und Bauern und Gärtner*innen eng zusammen arbeiten, um Pflanzen für eine nachhaltige Landbewirtschaftung und guten Geschmack zu züchten. Das ist eine Investition in die Zukunft.

Markus Fadl für Naturland: Der Öko-Landbau verzichtet so weit als möglich auf externe Betriebsmittel wie Dünger, Pflanzenschutzmittel oder Antibiotika. Deshalb ist die Wahl der richtigen Sorte oder der richtigen Rasse besonders wichtig. Wir brauchen mehr widerstandsfähige Sorten und Rassen, die für den Öko-Landbau besonders geeignet sind. Und dafür brauchen wir mehr Züchtungsprojekte unter ökologischen Bedingungen. Dass dieser Weg zum Erfolg führt, zeigen Projekte in verschiedenen Bereichen: von Zweinutzungshühnern über samenfestes Gemüse bis hin zu neuen Backweizen-Sorten. Ein Naturland Mitglied hat z.B. neue Öko-Wintererbsen Sorten selektiert, die deutlich krankheitstoleranter sind als die sonst üblichen Sommererbsen.  Doch gute Öko-Züchtung ist aufwändig, teuer – und wird bislang kaum gefördert. Stattdessen gibt die Bundesregierung zehn Mal so viel Geld für Forschung zu gentechnisch veränderten Pflanzen und Tieren aus. Das muss sich dringend ändern: im Interesse der Landwirtschaft, die unabhängiger wird von internationalen Konzernen; und im Interesse der Verbraucher, die mehr Wahlfreiheit bekommen.